Liebe Freunde von KURS FAHRRADSTADT,
wir melden uns mit positiven Nachrichten aus der Sommerpause zurück – denn es gibt sie tatsächlich in Hamburg: Eine „Lebensretter-Ampel“.
Dazu begeben wir uns auf die Elbinsel. In Wilhelmsburg, wo die Rotenhäuser Straße die Georg-Wilhelm-Straße kreuzt, tut eine solche Ampel ihren guten Dienst, laut Antwort eines Passanten seit mindestens 4 oder 5 Jahren schon. Weil zwei Schulen in unmittelbarer Nähe sind, weil Busse (Metrobus 13) und durch den Hafen in der Nähe recht viele LKW über die Georg-Wilhelm-Straße brettern, wurde diese Ampel wohl umgerüstet. Auf allen vier Straßen, die in die Kreuzung münden, gibt es noch „richtige“ Radwege, die auf dem Hochbord neben den Fußwegen verlaufen. Sie könnten besser und gern auch breiter sein, aber das ist ein anderes Thema. Ein Freund, Hamburger Berufskraftfahrer mit niederländischer Herkunft, machte mich auf diese Ampel aufmerksam. Denn sie ist anders als alle anderen: Diese Ampel rettet Leben.
Wie? Ganz einfach dadurch, dass (schwere) (Abbiege) Unfälle mit KFZ, Bussen und LKW schlicht ausgeschlossen werden. Der Trick ist simpel: Springt diese Ampel für Fußgänger und Radfahrer auf grün, tut sie dies in alle vier Richtungen gleichzeitig, während der Kraftverkehr in alle Richtungen still steht. 16 – 17 Sekunden dauert diese Phase etwa, in der es möglich ist, selbst als Fußgänger diese Kreuzung nach egal wohin gut zu überqueren. Über wenige Sekunden mehr würden sich Menschen, die nicht mehr ganz so fit zu Fuß sind, dennoch sicher freuen. Danach fließt der Autoverkehr zunächst auf der Rotenhäuser, anschließend auf der Georg-Wilhelm-Straße, Rad- und Fußverkehr haben nun rot. Nach genau einer Minute Umlaufzeit beginnt das Lichtsignalprogramm von vorne. „Vision Zero“ von ihrer besten Seite.

Diese Kreuzung ist eine der äußerst wenigen in Hamburg, die somit nach dem niederländischen Prinzip arbeitet. Weitere solche Kreuzungen scheint es am Langenbeker Weg / Sinstorfer Weg (T-Kreuzung, HH-Marmstorf) und Harburger Ring / Krummholzberg (HH-Harburg) und am Pinneberger Weg / Johann-Schmidt-Straße (T-Kreuzung, HH-Eidelstedt – danke für die Hinweise, „Alltagsradler Hamburg“) zu geben. Mein holländischer Freund berichtet, dass im Fahrradparadies Niederlande sehr viele Ampeln in Innenstadtbereichen bzw. überall dort, wo es ein hohes Radverkehrsaufkommen gibt und es Unfallschwerpunkte gab, so geschaltet sind. Auch und gerade an großen und stark befahrenen Kreuzungen. Dabei dürfen die Kreuzungen häufig zudem gleich diagonal durchradelt werden. Die Holländer gehen dabei oftmals auch noch besonders smart vor, so smart, dass sogar Sensoren in Radwegen und für Fußgänger verbaut sind, sodass Ampeln für sie automatisch auf grün springen, sobald sie sich der Kreuzung nähern. Individuell, für jeden Einzelnen sozusagen werden passgenau Grünphasen gegeben, die kaum Auswirkungen auf den Autoverkehr haben, der sich, wenn niemand eine Kreuzung passieren möchte, dafür über lange Grünzeiten freuen kann. Regen und Schnee? Smarte Chips verlängern dann die Grünphasen für Radfahrende. Übrigens eine Sache, von der sich die „Smarte City of Solutions“ Hamburg mit Hinblick auf den hier stattfindenden ITS Weltverkehrskongress 2021 noch so einige Scheibchen abschneiden sollte, um nicht allzu gestrig dazustehen („Grüne Welle und andere smarte Ideen für Radfahrende“, urban independence, 21.06.2016).
Für meinen LKW fahrenden Freund, der beider Länder Straßen und Verkehrspolitiken bestens kennt, ist die Sache klar: „Es gibt keine bessere und billigere Möglichkeit, schwere LKW Unfälle zu verhindern, als eben genau solche Ampelschaltungen überall einzuführen. Ohne solche Rundum-Grün-Schaltungen gewährleisten nicht einmal die viel gepriesenen tollen Radwege ein gleich hohes Schutzniveau. Das funktioniert aber nur, wenn sich alle, auch die Radfahrenden, dann daran halten“, sagt er. In den Niederlanden und auch in Dänemark klappt es damit aber bestens, was auch daran liegt, dass Radfahrende mehr und härter sanktioniert werden, wenn sie sich nicht an die Regeln halten. Denn wenn gute, wirklich einladende und den Radverkehr ernsthaft fördernde Maßnahmen ergriffen werden, steigt eben auch die Bereitschaft, diese zu nutzen und sich entsprechend zu benehmen. So erklärt sich, weil 60% aller niederländischen Autofahrer auch Radler sind – dass das Verständnis für alle Verkehrsteilnehmer steigt, einhergehend mit entsprechenden Manieren auch auf zwei Rädern – so schließt sich der Kreis. Im folgenden Video sind gute Beispiele zu sehen, wie die „Lebensretter-Ampeln“ mit Rundum-Grün in den Niederlanden funktionieren.
Zurück nach Wilhelmsburg: Wenige hundert Meter weiter, auf der gleichen Georg-Wilhelm-Straße, schaltet die Ampel an der Kreuzung Vogelhüttendeich nach dem klassischen Muster. Verkehrsaufkommen: Sicher ähnlich hoch. Auch hier fahren LKW und Buslinien, der Ampelumlauf beträgt gerade mal 40 Sekunden. Traurige 1 Minute und 7 Sekunden (anstelle 16 Sekunden an der anderen Ecke!) brauchen Radfahrer und Fußgänger hier teilweise, um diese Kreuzung in zwei Richtungen zu passieren – alle bekannten Gefahren dabei inklusive.
Die offizielle niederländische Fahrrad-Philosophie hingegen lautet:
„Radfahrer sind nicht gefährlich, Autos und Autofahrer dahingegen schon. Darum sollten Autofahrer die Verantwortung für die Verhinderung von Zusammenstößen mit Radfahrern übernehmen.“
Wäre das auch hierzulande so, würden sogar sie sich über solche „Lebensretter-Ampeln“ freuen. „Eine derartige Fußgängerphase mit Alles-Rot für den Kraftfahrzeugverkehr vermeidet die mögliche Gefährdung der Fußgänger durch abbiegende Fahrzeuge“, sagt Richard Schild, Sprecher des Bundesverkehrsministeriums in Berlin. („Rundum-Grün soll Unfälle vorbeugen“, FOCUS Online, 24.01.2012) Entsprechend hat eine Untersuchung der Unfallforscher der Versicherer (UDV) ergeben: „Abbiegeunfälle zwischen Kraftfahrern und Fußgängern kommen schlicht nicht mehr vor.“ Was für eine Überraschung! Es verwundert nicht, dass die UDV Diagonalgrün (eine besondere Variante des Rundum-Grüns) für Kreuzungen mit auffälligem Unfallgeschehen zwischen abbiegenden Kfz und Fußgängern empfiehlt, wenn keine andere Maßnahme diese Konflikte vermeiden kann. Auch bei sehr vielen rechtsabbiegenden Fahrzeugen kann die Diagonalquerung Vorteile bringen. Ebenso, wenn es bei den Fußgängern einen hohen Bedarf gibt, die Kreuzung diagonal zu queren. https://udv.de/download/file/fid/1287
20 Sekunden.
Das ist bei diesen beiden Wilhelmsburger Kreuzungen die Differenz, Gelb- und gesamte Rotphasen inklusive. 20 Sekunden, die Autos maximal länger warten müssten. 20 Sekunden, in denen die Leistungsfähigkeit für MIV ein wenig reduziert wird, während sie für Rad- und Fußverkehr steigt (attraktiveres, sichereres Radfahren = mehr Radfahrer = weniger Autos). Aber eben auch ein paar mehr Sekunden, die Fußgänger und Radler länger warten müssten, bis sie wieder an der Reihe sind. Vor allem aber: 20 Sekunden, die Leben retten können. Wenn es an der Rotenhäuser Straße und in den Niederlanden geht, geht es überall – auch im Übrigen Hamburg. Warum wird es dann nicht weitaus mehr gemacht, „Fahrradstadt Hamburg“? Man muss sich schon entscheiden wollen, welche Verkehre wünschenswert sind und gefördert werden sollen. Es „allen gerecht“ machen zu wollen, die „Hamburger Linie“, ist keine Entscheidung in diesem Sinne. Die Niederlande und Dänemark z.B. haben diese Entscheidung dagegen klar getroffen. Sind Hamburger Fußgänger und Radfahrende also so wenig wert, dass sie nicht besser geschützt werden müssen? 1.048 Menschen starben 2015 innerorts auf deutschen Straßen, die meisten von ihnen waren Fußgänger und Radfahrer. Allein 382 Radfahrende ließen 2017 auf den Straßen dieses Landes ihr Leben.
Muss zu Fuß gehen und Radfahren wirklich so gefährlich sein?
Genau das fragt sich auch eine absolut sehenswerte neue ZDF Doku. 29 Minuten, in den Heftiges gezeigt und Lösungen hinterher geschickt werden. Selten gab es von den öffentlich rechtlichen Anstalten so schonungslos Gutes zum Thema. Sehr interessant auch, wie die Ursprünge des deutschen Autowahns aus der Nazizeit erklärt werden, die noch heute ihre Spuren hinterlassen. Und selten hat eine Doku so hart mit dem KFZ Verkehr abgerechnet. Gut so!
https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzoom/zdfzoom-auto-gegen-fahrrad-100.html
Oder etwa doch?
Denn der Druck auf die Hamburger Politik nimmt immer weiter zu. In den Empfehlungen, die wir von KURS FAHRRADSTADT unserem Bürgermeister in unserem offenen Brief mitgegeben haben, gehört die autofreie Innenstadt ganz selbstverständlich mit dazu. Viele Städte und Metropolen haben es inzwischen längst begriffen und arbeiten daran, die Blechkarawane aus ihren Citys zu verbannen. „Denn Städte, die nett zu ihren Fußgängern sind, sind meistens auch nett zu ihren Radfahrern“, sagt der Däne Jan Gehl, Koryphäe und internationaler Vorkämpfer für lebenswerte Städte. Auch Hamburg war da schon einmal weiter – in Bergedorf. Darüber haben wir viel zusammengetragen, noch mit unserer der hamburgweiten KURS FAHRRADSTADT Kampagne vorausgegangenen Aktion. Denn hier ist es ähnlich wie mit den Kreuzungen – es können alle nur gewinnen: der Handel und die Gastronomie, die Bewohner, die Besucher, die Sicherheit, die Gesundheit, das Klima und die ganze Stadt, die viel Geld sparen kann. „Von Bergedorf lernen“, war unser Beitrag dazu.
Nun schaltet sich Prominenz ein. Jørn S. Jørgensen, auch Däne, Gründer und Chef des Hamburger Unternehmens „EuroEyes“, Hauptsponsor der gerade durch Hamburg gelaufenen „Cyclassics“, hat sich in der MOPO gleich auf einer Doppelseite zu Wort gemeldet und fordert den Senat ebenso auf, die Innenstadt autofrei zu machen („Es ist Zeit, den Wandel zu gestalten. Macht die Innenstadt autofrei!“, MOPO, 18.08.2018)
Zudem hat er Experten der Gehl Architects nach Hamburg eingeladen und bringt sie mit der Politik zusammen. Das ist wichtig – wir und über 3.000 weitere Hamburgerinnen und Hamburger, die den offenen Brief an unseren Bürgermeister unterzeichnet haben und den Glauben nicht aufgeben, dass es auch in Hamburg gelingen muss, die Stadt nachhaltig und zukunftsfähig zu transformieren, danken für diese gute Aktion!
Damit haben wir bereits unsere tolle Neuigkeit verraten, über die wir uns sehr freuen! Über 3.000 Unterschriften haben wir online auf change.org bis heute sammeln können, hinzukommen noch etwa 250, die wir klassisch anlalog gesammelt haben. Das mag nach bald zwei Jahren nach nicht allzu viel klingen, aber bei dieser Thematik und in dieser autolastigen Stadt glauben wir, dass es schon ganz ordentlich ist. Gleichzeitig zeigt es aber auch, dass wir weiterhin mehr als dankbar für jedes Verbreiten und Teilen dieser Kampagne in Netzwerken und Freundeskreisen sind. Wir haben keine Heerscharen, die auf den Straßen Unterschriften sammeln und haben bis heute auch keinen Cent an change.org gezahlt, damit sie unsere „Petition“ evt. interessierten Menschen vorstellen. Alle haben wir mit unserer Arbeit und durch eure Hilfe direkt überzeugen können. Wir freuen uns von daher weiterhin über Unterstützung jeglicher Art ganz gleich ob als Mitmacher im oder für das Team KURS FAHRRADSTADT oder ob es sich um ideelle Unterstützung / Sponsoring durch Unternehmen und Verbände handelt (Bitte melden unter kursfahrradstadt@hamburg.de). Dank an dieser Stelle auch an den „Zukunftsrat Hamburg“ , Schauspieler Peter Lohmeyer sowie Prof. Dr. Alexander Bassen von der Uni Hamburg, die uns von Anfang an auf diese Weise unterstützen.
Als Nächstes werden wir eine erste Übergabe von Unterschriften und Kommentaren an Bürgermeister Tschentscher in Angriff nehmen. Denn eines ist klar:
Wir werden weiter machen!
Volle Fahrt voraus, KURS FAHRRADSTADT, für sichere Radwege, autofreie Innenstadt, innovative Mobilitätslösungen für alle, weniger Stauchaos auf unseren Straßen, für mehr frische Brise und mehr Lebensfreude in der schönsten Stadt der Welt.
Überzeugt? Dann gerne hier
2 Antworten auf „Retter-Ampeln, autofreie Innenstadt und über 3.000 UnterstützerInnen von KURS FAHRRADSTADT“
Sehr ausführlicher und informativer Artikel. Vielen Dank!
[…] Warum warten Sie weiter, anstelle die Hamburger Ampeln bedingungslos auf „Rundum-Grün“ zu stellen und auf diese Weise ganz einfach Lebe…? […]